Auf dem Video vom 18.4. ist zu sehen, wie der Architekt und Zimmermeister Sascha Wolff laut aus der sächsischen Verfassung vorliest (Link zu wiki-tube*). In beträchtlichem Abstand um ihn herum stehen einige Menschen einzeln und in Zweiergruppen und applaudieren gelegentlich. Ein Gruppe Polizisten kommt angefahren und hört zunächst zu.
Wolff beendet seine Lesung und will, sein Fahrrad schiebend weggehen. Die Polizistinnen und Polizisten auf deren Uniformrücken NRW zu sehen ist, scheinen seinen Weg zu verstellen. Er wechselt die Richtung. Als er auf sein Fahrrad steigen will, wird er von von zwei Polizisten angesprungen, von denen ihn einer in den Schwitzkasten nimmt, der andere ihn am Kopf nach unten reißt. So wird er vom Fahrrad zu Boden geworfen. Dann knien sich die Beamten auf ihn und fixieren ihn minutenlang am Boden.
Gegenwehr ist nicht erkennbar. Ein anderer Grund für das zu Boden Werfen und das lange Fixieren auch nicht.
Herr Wolff, wann und wo hat sich der Vorfall auf dem Video ereignet?
Das war am Samstag 17. April gegen 19 Uhr auf dem Postplatz in Dresden.
An dem Tag sollte es eine Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen in Dresden geben, die verboten wurde. Hatte ihre Lesung etwas damit zu tun, war das eine Art Demonstration?
Nein. Ich habe mich nur auf einen Platz gestellt und aus der Verfassung vorgelesen, ohne Ankündigung und wie man auf dem Video sieht, vor kleinem Passantenpublikum. Ich lese zwar auch manchmal bei Demonstrationen aus Grundgesetz oder Verfassung vor, aber meistens tue ich das als Einzelaktion. Gern auch vor dem Landtag.
Wie ist die Reaktion der Behörden darauf?
Nicht sehr freundlich. Ich bin schon mehrmals abgeführt worden, unter anderem, weil man vor dem Landtag nicht demonstrieren dürfe. Mir ist schleierhaft, wie man das Vorlesen aus der Verfassung mit einer Demonstration gleichsetzen kann und wie man eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit daraus konstruieren kann.
Hatte das rechtliche Folgen für Sie?
Bisher nicht. Die Verfahren sind jeweils sehr schnell eingestellt worden. Es sind wohl auch in den Behörden maßgebliche Menschen der Auffassung, dass das Vorlesen aus der Verfassung nicht strafbar ist. Auch wegen des Vorfalls am 17. April habe ich noch keinen Strafbefehl oder Ähnliches bekommen.
Und Sie, wollen Sie sich gegen die Behandlung durch die Polizisten wehren?
Ja. Ich werde straf- und zivilrechtlich dagegen vorgehen, unter anderem wegen Körperverletzung im Amt.
Haben Sie den Polizisten Grund gegeben, Sie so zu behandeln? Haben Sie sich einer Aufforderung, stehen zu bleiben, widersetzt oder entzogen?
Nein, eine solche Aufforderung gab es nicht. Ich hatte auch keinen Grund anzunehmen, dass die Polizisten etwas an meinem Verhalten auszusetzen hatten, nachdem sie zunächst einfach zugehört hatten und dann, einen Bogen um mich machend, vor mir vom Postplatz weggingen.
Wissen Sie, warum die Beamten Sie so lange am Boden fixiert haben?
Sie suchten mich nach einem Ausweisdokument ab. Ich hatte aber keines bei mir. Ich habe ihnen aber anstandslos gesagt, wer ich bin und wo ich wohne.
Wie ging die Sache weiter?
Nachdem man mich irgendwann aufstehen ließ, wurde ich längere Zeit am Polizeiauto festgehalten und sollte schließlich mitgenommen werden. Sächsische Polizisten, die dazukamen, sorgten aber schließlich dafür, dass diese unfassbare Situation ein Ende fand.
Haben Sie gesundheitliche Schäden davongetragen?
Durch den Sturz aufs Pflaster habe ich eine Knieverletzung erlitten, wegen der ich noch in Behandlung bin und Probleme habe.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Wolff.
Polizei Dresden nimmt Stellung
Ich bat die sächsische Polizei und das Innenministerium NRW um Stellungnahme zu dem Vorfall. Ein Sprecher der Polizei Dresden schrieb zurück, das Handeln der Polizisten aus NRW stünde in Einklang mit deren Einsatzphilosophie. Das Video zeige die Festnahme eines „Wortführers“ einer verbotenen Versammlung, die am Samstagabend am Postplatz gestartet sei. Dafür verweist der Sprecher auf eine Pressemitteilung der Polizei von Abend des 17.4.
Herr Wolff habe auf wiederholtes Ansprechen durch die Einsatzkräfte nicht reagiert. Um das Wegfahren zu unterbinden sei vorläufige Festnahme mit unmittelbarem Zwang zur Identitätsfeststellung erfolgt. „Dieses Vorgehen führt zwangsläufig zu den – zugegeben nicht schönen – Bildern.“ Die Umstände der Festnahme würden, auch mit Blick auf Online-Anzeigen, überprüft, heißt es in der Antwort. Aber das Ergebnis der Überprüfung scheint schon festzustehen.
Video zeigt anderes
Die Auskunft des Polizeisprechers ist schwer in Einklang zu bringen mit dem, was man auf dem Video sieht und was in der Pressemitteilung der Polizei steht. Auf dem Video sieht es nicht so aus, als habe man Wolff zum Stehenbleiben bringen wollte, eher als habe man ihn davon abhalten wollen, in eine bestimmte Richtung zu gehen. Ein Ansprechen ist nicht zu hören. Vielmehr gehen die Beamten recht gemütlich in etwas Entfernung neben ihm her und machen keine Anstalten, ihn zum Stehenbleiben zu bewegen. Erst als er auf sein Fahrrad steigen will, springen sie ihn an und reißen ihn zu Boden.
Es wirkt auf mich, als hätten sie auf die Gelegenheit gewartet. Für mich sieht auf dem Video auch nichts zwangsläufig danach aus, dass es zu dieser Misshandlung kommen musste.
Presseerklärung und Stellungnahme der Polizei widersprechen sich
Besonders sonderbar ist jedoch die Auskunft zum angeblichen Grund der Festnahme, Wolff sei „Wortführer“ einer verbotenen Demonstration gewesen, die um 19 Uhr, dem Zeitpunkt seiner Festnahme, vom Postplatz aus in Richtung Innenstadt gezogen sei. Unklar ist, was ein „Wortführer“ sein soll. Er war ja nach 19 Uhr nicht dabei, sondern in Polizeigewahrsam. Er könnte Organisator oder Anmelder gewesen sein, aber das bestreitet er und das wirft die Polizei ihm offenbar auch nicht vor.
Auf dem Video ist zu sehen, dass Wolff ziemlich allein auf dem Platz steht, weitläufig umringt von wenigen Menschen.
Erstaunlich ist auch, dass ihm nach seinen Angaben auch fünf Wochen nach dem Vorfall noch keine Ordnungswidrigkeit oder Straftat vorgeworfen worden ist.
In der Pressemitteilung zum „Polizeieinsatz am 17. April 2021 – Ergänzung“ von 22:09 Uhr, auf die der Polizeisprecher verweist, ist zwar von zwei festgenommenen „Wortführern“ der dort beschriebenen Demonstration die Rede. Wolff ist aber den Altersangaben nach nicht dabei. Das konnte er ja auch kaum, da er von den Beamten aus NRW auf dem Postplatz festgehalten wurde.
Es ist unerfindlich, warum in der Pressemitteilung Wolff nicht als festgenommener Wortführer erwähnt wird, wenn er deswegen festgenommen worden ist. Vielmehr ist dort nur von geahndeten Verstößen gegen die Corona-Schutzverordnung auf dem Postplatz die Rede:
„Im Rahmen der Nachaufsicht waren Einsatzbeamte gegen 19.00 Uhr auf dem Postplatz präsent und ahndeten mehrere Verstöße gegen die Sächsische Corona-Schutz-Verordnung. Zu dieser Situation kamen zahlreiche Personen aus der sogenannten Querdenker-Szene hinzu. Kurz drauf liefen 50 dieser Personen in Richtung Innenstadt.“
Wie es klingen würde, wenn man Wolff tatsächlich wegen Wortführerschaft festgenommen hätte, zeigt eine weitere Passage aus der Pressemitteilung:
„Zwei Wortführer der Aktion konnten später von Polizeibeamten festgenommen werden. Gegen die beiden Deutschen im Alter von 35 und 51 Jahren wurde ein Ermittlungsverfahren wegen des Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz eingeleitet. Auch gegen die anderen Teilnehmer ermittelt die Polizei.“
Das alles wirkt auf mich so, als habe man sich bei der Dresdner Polizei Wolffs angebliche „Wortführerschaft“ bei der Demo, bei der er gar nicht dabei war, nachträglich ausgedacht, um einen anderen Grund für die ausgesprochen ruppige Festnahme zu konstruieren als das Vorlesen aus der sächsischen Verfassung.
Meine Nachfragen zu diesen Ungereimtheiten hat die sächsische Polizei nicht beantwortet. Auch die Frage, wer die Einsatzkräfte aus NRW mit welchem Auftrag zum Postplatz geschickt hat, beantwortete der Polizeisprecher auch auf Nachfrage nicht. Das Innenministerium NRW hat meine per E-Mail gestellten Fragen nicht beantwortet.
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