Christoph Quarch. Am 21. April 2021 hat der Deutsche Bundestag eine Neufassung des Infektionsschutzgesetzes beschlossen. Erklärtes Ziel der Bundesregierung ist es, mit einer bundesweites „Notbremse“ die sogenannte „dritte Welle“ der Covid-Pandemie in Deutschland einzudämmen. Schon im Vorfeld wurden zahlreiche rechtliche und politische Einwände gegen die Gesetzesvorlage vorgebracht, selbst im Bundeskanzleramt wurden zahlreiche Bedenken laut.
Ebenso wenig wie die Androhung einer Verfassungsklage seitens der Freien Demokraten hat all das die Fraktionen der Regierungsparteien davon abgehalten, dem Gesetz zuzustimmen und damit einer nie da gewesenen Zentralisierung der deutschen Politik den Weg zu bereiten. So alternativlos scheint das Diktat der Pandemie, dass man bereit ist, zu ihrer Bekämpfung das Föderalismusprinzip außer Kraft zu setzen und damit den wichtigsten und bewährtesten konstitutionellen Pfeiler der Bundesrepublik Deutschland zu beschädigen.
Warum sind die Regierungsparteien bereit, einen so hohen Preis für den Infektionsschutz zu zahlen? Warum sind die Regierenden nicht länger willens, alternative Wege wie in Tübingen oder im Saarland zu dulden? Weil sie dem Diktat eines Denkens erlegen sind, das ihnen fälschlicherweise suggeriert, der von ihnen eingeschlagene Weg sei alternativlos.
Das Fundament der Demokratie erodiert
Den Begriff der Alternativlosigkeit politisch hoffähig gemacht hat Bundeskanzlerin Angela Merkel. Wiederholt hat sie ihn verwendet, um den von ihr propagierten Weg der Pandemiebekämpfung zu rechtfertigen. Die Gefahr, der sie damit unsere Demokratie ausgesetzt hat, scheint sie nicht zu sehen. Das ist insofern verständlich, als sie an der Oberfläche des politischen Alltags kaum sichtbar ist.
Gerade da aber liegt das Problem. Denn das Diktat eines in Kategorien der Alternativlosigkeit denkenden Mindsets bereitet unmerklich und untergründig einen Weg zur Diktatur. Er lässt das Fundament der Demokratie langsam erodieren, indem es den Freiraum des Politischen verengt. Dort, im Freiraum des Politischen wirkt Alternativlosigkeit wie ein Nervengift. Und da keine Demokratie ohne den Raum des Politischen denkbar ist, sagt man nicht zu viel, wenn man den Mindset der Alternativlosigkeit als Gefahr auf die demokratische Kultur entlarvt.
Der Raum des Politischen ist ein offener und unberechenbarer Raum. Es ist der Raum, in dem Wertkonflikte gewaltfrei ausgetragen werden. So wäre es der Raum des Politischen, indem während der Covid-Pandemie darum gerungen werden müsste, welche Ziele die Regierungspolitik verfolgen und welchen Werten sie genügen soll.
Sterbefälle verhindern vs. Bildung ermöglichen
Er wäre der Ort für Debatten zu Fragen wie diesen: Ist der höchste Werte des Gemeinwesens der unbedingte Erhalt jedes einzelnen Menschenlebens – und ist die Minimalisierung von pandemiebedingten Sterbefällen deshalb das oberste Ziel aller politischen Interventionen? Oder ist die Bildung der Jugend als Garant seiner Zukunft der höchste Wert des Gemeinwesens – und die Aufrechterhaltung des Schul- und Hochschulbetriebs das vordringlichste Ziel der Covid-Maßnahmen? – Um nur einen möglichen Diskurs zu skizzieren, der dringend geführt werden müsste.
Denn beide Sichtweisen sind gut begründet, beide sind mit der Verfassung kompatibel – und nicht nur sie. Auch die Bewahrung der Kulturlandschaft, der Wirtschaft oder des sozialen Friedens wären Werte, die mit dem des unbedingten Erhalts von Leben begründet konkurrieren dürften. Doch findet eine Wertediskurs über die Ziele der Pandemie-Eindämmung nicht statt.
Die regierungsseitig vertretene Auslegung bedient ausschließlich eine nicht weiter infrage zustellende Wertsetzung: Leben muss erhalten und Triage-Entscheidungen in Kliniken müssen vermieden werden. Ist diese Zielsetzung erst einmal durchgesetzt und dem öffentlichen Diskurs entzogen, dann ist der Weg für das Konzept Alternativlosigkeit bereitet. Nun erscheint es nicht nur akzeptabel, sondern sinnvoll – sinnvoll nach Maßgabe eines nicht mehr infrage gestellten Ziels, dem alle politischen Interventionen als Mittel zum Zweck dienen müssen.
Herrschaft der Ingenieure
Dadurch ist der Keim zur Diktatur gelegt: Nicht eine Person übt sie aus, sondern eine dem Raum des Politischen entzogene Zielsetzung – eine Zielsetzung, deren vermeintlich unbedingte Geltung ihre Alleinherrschaft begründet und die ihr dienlichen Mittel dekretiert. Denn gesetzt, das Ziel steht unbeirrbar fest, dann stellt sich in jeder konkreten Entscheidungssituation lediglich die eine Frage: Welche konkrete Maßnahme dient dem Ziel am besten, am effizientesten, am schnellsten, am dauerhaftesten? Solche Fragen zu entscheiden, erfordert nicht länger den offenen Raum des Politischen, in dem Bürger um Werte und Ziele ringen.
Sie zu entscheiden, delegiert man an Experten bzw. Ingenieure und deren instrumentelle Vernunft, kraft derer sie die angezeigten Maßnahmen be- oder errechnen können. In der Welt des Rechnens bzw. der Berechnungen ist kein Platz für das Politische. Anders als in der politischen Welt der Werte, die um die Kategorien angemessener oder unangemessener kreist, herrschen im Raum des Rechnens die Kategorien richtig und falsch – und die Kategorie alternativlos.
Wenn es darum geht, die Funktion einer Maschine aufrechtzuerhalten, dann mag es nach eingehenden Berechnungen auf der Grundlage aller verfügbaren Informationen alternativlos erscheinen, sich für eine Maßnahme zu entscheiden. Wenn ein Chirurg eine Operation durchführt, dann mag es nach Maßgabe derer Zielsetzung alternativlose Optionen geben. Und wenn ein Unternehmen seinen Purpose darin erkannt hat, seinen Profit zu maximieren, kann Alternativlosigkeit bei Börsentransaktionen eine sinnvolle Kategorie sein.
Es ist verführerisch, diese Denkweise in die Politik zu übertragen, denn sie entlastet die Politiker von der Verantwortung, für Werte und Ziele einzustehen und verspricht ihnen zudem eine Festigung ihrer Macht: Denn wenn die Diktatur der dem Diskurs entzogenen Ziele errichtet ist, wird es dem politischen Gegner schwer, Widerstand zu leisten; weil der Raum des Politischen geschwunden und durch Expertise und Kalkül dominiert wird. Wohin das führt, lässt sich inzwischen absehen:
Da das Kalkül von intelligenten Maschinen sehr viel besser exekutiert werden kann als von wertbehafteten Menschen, steht zu erwarten, dass in der Diktatur der unhinterfragten Ziele der Raum des Politischen dadurch schwindet, dass er durch Computer verbaut wird – oder durch Experten. So oder so hört er auf zu existieren. Und mit ihm schwinden Demokratie, Freiheit, Gemeinsinn und der menschliche Diskurs.
China ist nicht weit
Wer wissen will, wie ein politisches Gebilde aussieht, in dem das Politische eliminiert wurde, der werfe einen Blick auf die Volksrepublik China. Gewiss, solange die demokratischen Institutionen in unserem Land noch intakt sind und der Rechtsstaat funktioniert, sind wir weit von der Dystopie einer Sinisierung Deutschlands entfernt.
Doch man täusche sich nicht. Die deutsche Geschichte hat den Nachweis erbracht, dass die Erosion des Politischen in den Köpfen beginnt: dort, wo das Denken aufhört und die Ziele des politischen Handelns nicht mehr zur Diskussion gestellt werden. Wer Alternativlosigkeit als politische Kategorie verwendet, hat den ersten Schritt in den Tunnel getan. Das neue Infektionsschutzgesetz vollzieht den zweiten. Seien wir wachsam…
Dieser Beitrag erschien zuerst am 23.4. zuerst auf der Website von Christoph Quarch.
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