Ab Mittwoch reiten die Wirtschaftsweisen wieder gegen die Arbeitnehmerinteressen

Wirtschaftspolitik im Arbeitgeberinteresse wird von den Wirtschaftsweisen als alternativlos dargestellt. Die wissenschaftliche Redlichkeit bleibt dabei oft auf der Strecke. Umso erbitterter kämpft die Mehrheit im Sachverständigenrat darum, arbeitnehmernahe Störenfriede fernzuhalten oder wenigsten zu diskreditieren und auszugrenzen.

Am Mittwoch den 7.11. ist es wieder soweit. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung übergibt der Bundesregierung sein angebotsorientiertes Jahresgutachten. Der Nimbus der Wirtschaftsweisen hat zwar gelitten. Aber dennoch ist der Sachverständigenrat das prominenteste Beratergremium der Bundesregierung. Seine Wirkung hängt nicht nur davon ab, möglichst viele und große Schlagzeilen in den Medien zu produzieren. Es genügt schon, wenn sich die Räte in ihrer angebotsorientierten, also arbeitgebernahen Grundhaltung einig sind, und die Gutachten in diesem Sinne verfasst werden. Wenn das gelingt, dann verfestigt sich die öffentliche Wahrnehmung, dass ernsthafte Wirtschaftswissenschaft mit marktliberalen Thesen und Empfehlungen gleichzusetzen ist. Alles was davon ausgeht, dass die Bevölkerungsmehrheit der Arbeitnehmer Interessen hat, die nicht mit denen der Arbeitgeber harmonieren, wird zur Quacksalberei gestempelt.

Der Sachverständigenrat ist dank des Rechts der Gewerkschaften, ein Mitglied vorzuschlagen, die letzte halbwegs prominente Position für einen deutschen Ökonomen, der in wirtschaftspolitischen Fragen die Interessen der Arbeitnehmer einigermaßen gleichrangig mit in die Betrachtung einbezieht. Seit gut 20 Jahren wurde meines Wissens fast kein Volkswirt mehr an einen wirtschaftspolitisch relevanten Universitätslehrstuhl berufen, der eine geistige oder sonstige Nähe zur falschen Seite der Tarifpartnerschaft aufweist. Entsprechend ruppig geht man zu Werke, wenn es darum geht, diese letzte Bastion öffentlich wahrgenommener arbeitnehmernaher Ökonomik auch noch zu schleifen.

Peter Bofinger von der Uni Würzburg, sitzt auf dem Gewerkschaftsticket im Sachverständigenrat. Er hat seine Aufgabe ernst genommen und den markliberalen Analysen der vier anderen Räte zu Themen wie Ungleichheit, Altersversorgung und Arbeitsmarktpolitik, regelmäßig Minderheitsgutachten entgegengestellt, die – auch wegen des Krawallfaktors – wahrscheinlich oft die meistgelesenen Passagen des ganzen Gutachtens waren.

Null Toleranz für Abweichler

Wie sehr den marktliberalen Mainstream dieser letzte Stachel im Fleisch stört, wurde deutlich, als Bofinger in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung dafür plädierte, dass der Staat bestimmte Aufgaben selbst erledigen sollte. Die Replik kam von allen vier arbeitgebernahen Sachverständigenratsmitgliedern gemeinsam. Sie beschworen ihre gemeinsame „Liebe zum Markt“ und unterstellten Bofinger Laienhaftigkeit, weil er diese Liebe nicht hinreichend teile. Das war kein Einzelfall. Seit einiger Zeit ist zu beobachten, dass die vier arbeitgebernahen Weisen, teilweise unter Hinzuziehung des Generalsekretärs als Ersatzmann für Bofinger, mit wirtschaftspolitischen Thesen an die Öffentlichkeit gehen, ohne das arbeitnehmernahe fünfte Rad zu involvieren. Zuletzt veröffentlichten die vier am 12. September eine „gemeinsame Erklärung des Sachverständigenrats“ mit dem französischen Conseil d’analyse économique zur Reform der europäischen Fiskalregeln. Bofinger stellte über den Kurznachrichtendienst Twitter klar, dass es sich nicht um eine Stellungnahme des Rats, sondern nur um die von einigen seiner Mitglieder handelte. Unter dem Titel „Die schwarze Null in neuem Gewand“ veröffentlichte er eine Kritik an den Thesen der anderen vier, was Lars Feld per Twitter sarkastisch kommentierte: „Es scheint wichtig zu sein, etwas zu haben, wogegen man sein kann.“ In solchen Episoden zeigt  sich ein starkes Bestreben der Mehrheit, die Institution Sachverständigenrat allein für die Verbreitung arbeitgeberorientierter Wirtschaftspolitik zu instrumentalisieren und das gewerkschaftsnahe Mitglied als nicht richtig zugehörig zu markieren.

Bofingers Nachfolge ist das neue Schlachtfeld

Die Nachfolge von Bofinger im Frühjahr 2019 ist das aktuelle Schlachtfeld in diesem Kampf um die alleinige Deutungshoheit in der Wirtschaftspolitik. Die Gewerkschaften haben sich auf Achim Truger als ihren Kandidaten geeinigt. Truger ist Experte für öffentliche Finanzen und ein Eigengewächs der Gewerkschaftsszene. Der 49-Jährige war langjähriger Mitarbeiter und Referatsleiter des gewerkschaftsnahen Forschungsinstituts IMK in Düsseldorf, bevor er 2012 eine Professur für Makroökonomie an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin antrat. Das SPD-Mitglied hat seither viele Expertisen für die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung und die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung erstellt. Im Juni hat er einen Ruf auf die Professur für Sozioökonomie mit Schwerpunkt Staatsfinanzen der Universität Duisburg erhalten.

Truger wirbt dafür, dass der Rat nicht mehr so sehr die eine ökonomische Wahrheit zu verkünden sucht, sondern unterschiedliche Sichtweisen auf die Themen präsentiert. „Minderheitsvoten gibt es ja nur, wenn man sich gar nicht einigen kann“, gibt er zu bedenken: „Je mehr der Rat verschiedene Annahmen zugrunde legt und ein Spektrum an wirtschaftspolitischen Schlussfolgerungen aufzeigt, desto geringer ist der Bedarf.“ Darin sieht er auch den Sinn der Regelung im Sachverständigenratsgesetz, dass die Weisen keine konkreten Vorschläge machen sollen. „In der Volkswirtschaftslehre gibt es nicht die eine richtige Politikempfehlung“, unterstützt Truger diese Vorgabe und formuliert als Alternative: „Ich fände es gut, wenn sich in den Schlussfolgerungen das große Spektrum der in der Volkswirtschaftslehre vertretenen Ansätze widerspiegeln würde.“ Der Sachverständigenrat könne aus diesem wissenschaftlichen Reichtum schöpfen und unterschiedliche Folgerungen für die Politik verständlich aufarbeiten, sodass sie eine bessere Entscheidungsgrundlage hat.

Truger ist ein Kritiker der Regeln gegen Defizite im Staatshaushalt. Sie haben aus seiner Sicht dazu geführt, dass der Staat zu wenig investiert und dass die Euro-Krise unnötig tief war. Für seine Arbeiten zu „Alternativen zur Austerität“ hat ihn ein Komitee der Sozialisten und Demokraten im EU-Parlament unter Vorsitz von Nobelpreisträger Joseph Stiglitz 2015 mit dem Progressive Economy Award ausgezeichnet. Truger würde den Rat gern davon überzeugen, den Vorschlag einer „goldenen Regel“, den dieser 2007 aufgeschrieben hatte, wiederzubeleben. Danach könnten investive Ausgaben des Staates mit Krediten finanziert werden, ohne dass diese bei der Defizitberechnung nach Schuldenbremse und Stabilitätspakt berücksichtigt würden.

Die Reform des Euro-Regelwerks und die Sicherstellung der Handlungsfähigkeit des Staates sind die Themen, die ihm am meisten am Herzen liegen. „Der Staat hat eine Menge an Kapazitäten abgebaut und erweckt heute trotz Haushaltsüberschüssen und eilig aufgelegten Sonderprogrammen häufig einen hilflosen Eindruck“, bemängelt Truger. 

Für Truger ist es kein Zeichen mangelnder Wissenschaftlichkeit, wenn gewerkschaftsnahe Ökonomen arbeitnehmerfreundliche Standpunkte vertreten, während andere Schlüsse ziehen, die den Arbeitgebern gefallen. „Wenn es um ökonomische Zusammenhänge geht, dann gibt es unterschiedliche Modelle und damit auch unterschiedliche wirtschaftspolitische Schlussfolgerungen“, betont er.  Allgemeingültige Aussagen darüber, was ökonomisch „besser“ ist, gebe es in wirtschaftspolitischen Fragen nicht.

Trugers Hoffnung auf eine gedeihliche Zusammenarbeit, sollte er in den Rat einziehen, bekam aber schon direkt einen Dämpfer. Die Wirtschaftsweise Isabel Schnabel zog in umgehender Reaktion auf die Meldung des Handelsblatts über die Wahl der Gewerkschaften öffentlich Trugers Eignung in Zweifel. „Die wissenschaftliche Qualifikation muss an oberster Stelle stehen“, twitterte sie. Veröffentlichungen in internationalen Fachzeitschriften könnten diese am besten belegen. Der Wettbewerbsökonom Justus Haucap sprang ihr bei und sagte der FAZ:  „Die Gewerkschaften entsenden ein wissenschaftliches Leichtgewicht, das kaum auf Augenhöhe mit den anderen vier Mitgliedern diskutieren kann.“ Schnabels Ratskollege Lars Feld legte eine Schippe drauf und schrieb, er stelle Trugers Wissenschaftlichkeit nicht nur indirekt infrage, sondern direkt.

Kritik an Schnabels Maßstab 

Der Trend, wissenschaftliche Leistung an Veröffentlichungen in führenden Fachzeitschriften zu messen, ist im Fach zunehmend umstritten. In einem kürzlich veröffentlichten Aufsatz, der im „Journal of Economic Literature“ (JEL) erscheinen soll, spart Nobelpreisträger James Heckman nicht mit Kritik. „Berufungskommissionen entziehen sich ihrer Verantwortung, wenn sie die Entscheidung an Herausgeber der führenden Zeitschriften delegieren“, schreiben er und Koautor Sidharth Moktan. Sie beziehen sich dabei auf die besonders wichtig genommenen Top-5-Journals. Aber ihre Argumente passen auch für die sonstigen „führenden“ Zeitschriften.

Wer als Wissenschaftler Karriere machen wolle, müsse sich den wirtschaftspolitischen und methodischen Präferenzen der Herausgeber anpassen.  Wer dazu nicht bereit sei, habe kaum eine Chance. Heckman ist selbst Herausgeber einer der fünf weltweit führenden Fachzeitschriften, des „Journal of Political Economy“.

Nobelpreisträger George A. Akerlof schließt sich in einem auch für das JEL vorgesehenen Beitrag dieser Kritik an. Bei den führenden Zeitschriften komme man an, wenn man ein etabliertes Modell verwendet und daran nur kleine Veränderungen vornimmt. Das produziere Gleichförmigkeit und befördere Karrierismus. Gänzlich Neues oder deutlich vom Mainstream Abweichendes habe geringe Publikationschancen.

Achim Truger ist wie Peter Bofinger Keynesianier – diese Theorierichtung findet seit Jahrzehnten kaum noch Platz in Fachzeitschriften.

Steinwürfe aus dem Glashaus

Doch selbst  wenn man den Maßstab Schnabels akzeptiert, erweist sich die Kritik von ihr und Haucap als zweischneidig. So kommentiert der Chef des Wirtschaftsforschungsinstituts DIW, Marcel Fratzscher, er halte die öffentliche Kritik an Truger für unangebracht, auch weil in Deutschland nur wenige Kollegen gut in Topzeitschriften vertreten seien.

Als führende Messlatte dafür gilt das Handelsblatt-Ranking, das die Forschungsinstitute KOF (Zürich) und DICE erstellen. Hier ist Kandidat Truger nicht unter den ersten 250 des deutschsprachigen Raums (nach Lebenswerk) vertreten – Schnabel und Haucap allerdings auch nicht. Höchstplatzierter Wirtschaftsweiser ist Volker Wieland auf Rang 122. Lars Feld und Christoph Schmidt folgen auf den Rängen 188 und 209. Zum Vergleich: Fratzscher steht auf Rang 41.

Beim Indikator, der anzeigt wie oft Arbeiten von anderen Wissenschaftlern zitiert werden, liegt Truger laut der Datenbank Repec mit 350 Nennungen vor Bofinger. Schnabel mit 603 Zitationen und Haucap mit 700  werden deutlich öfter zitiert. Beide spielen aber eher in Trugers Liga als in der von DIW-Chef Marcel Fratzscher mit fast 5000 Zitierungen oder von Schnabels Ratskollegen, die drei- bis fünfmal so oft zitiert werden wie sie.

Auf den vorderen Plätzen der Handelsblatt-Publikationsrangliste stehen viele Professoren, die kaum in der Öffentlichkeit präsent sind. Das Auseinanderfallen von hoher Publikationsleistung und Einfluss als Berater oder Kommentator wird durch die Einfluss-Rangliste der „FAZ“ bestätigt. Diese misst separat die Publikationsleistung und das Renommee als Berater. Für Letzteres werden Parlamentarier und Führungskräfte von Ministerien gefragt, wessen Rat sie am meisten schätzen. Der publikationsschwache Peter Bofinger liegt mit seinem Ansehen als Politikberater mit 84 Punkten weit vor Schnabel mit neun Punkten.  Auch Bert Rürup, Vorsitzender des Sachverständigenrats bis 2009, hatte kaum Aufsätze in internationalen Zeitschriften vorzuweisen, war aber ein ausgesprochen einflussreicher Politikberater.

Enttäuschte Erwartungen

Die heftigen Reaktionen auf Trugers Nominierung könnten damit zusammenhängen, dass viele in und um den Sachverständigenrat damit gerechnet hatten, dass die Gewerkschaften den von vielen Seiten vorgeschlagenen, publikationsstarken Jens Südekum nominieren würden. Südekum liegt im Handelsblatt-Ranking nur knapp hinter Wieland. Er ist Ökonom am von Justus Haucap geleiteten Institut DICE und hat sich manchen Gewerkschaftspositionen gegenüber aufgeschlossen gezeigt.

Dazu zählt, dass er eine aktive Industriepolitik befürwortet, um zu vermeiden, dass Regionen bei der Globalisierung abgehängt werden. Die Gewerkschafter sehen aber andere seiner Positionen kritisch. So kam er in der Zeitschrift „Kyklos“ zu dem Ergebnis, dass höhere Löhne regelmäßig Beschäftigung kosteten.

Mit Gabriel Felbermayr vom Ifo-Institut forderte er zur Senkung des hohen deutschen Handelsüberschusses vor allem eine Deregulierung des Dienstleistungssektors. Er kritisierte, dass Unternehmen wie der Fahrdienstvermittler Uber hierzulande ein Schattendasein fristeten. Als Vermittler informeller Beschäftigung betreibt Uber aus Sicht der Gewerkschaften ein problematisches Geschäft.

 Das Franz-Trauma der Gewerkschaften

Im Gewerkschaftslager ist das Fiasko mit Wolfgang Franz noch sehr präsent. Die damalige DGB-Spitze hatte sich 1994 den Arbeitsmarktforscher Wolfgang Franz als Kandidat unterschieben lassen, weil er als etwas weniger dogmatisch galt als die meisten anderen etablierten Ökonomen. Er reihte sich sehr problemlos bei seinen arbeitgebernahen Kollegen ein. Nachdem er 1999 von den Gewerkschaften nicht für eine zweite Amtszeit nominiert worden war, kehrte er 2003 auf dem Arbeitgeberticket zurück und begründete 2004 die seither fortgeführte Tradition der Ratsmehrheit, mit wissenschaftlich indiskutablen Tricks und Täuschungsmanövern den bei Arbeitgebern verhassten Mindestlohn zu einem Jobkiller zu erklären.

Siehe dazu und zu weiteren eklatanten Fehlleistungen des Sachverständigenrats in den letzten Jahren das folgende Dossier. [4.11.2018]

Dossier zu den Tricks und Täuschungsmanövern der Wirtschaftsweisen

Was schert Wirtschaftsweise ihr Geschwätz von gestern?

21.03.2017

Täuschende Wirtschaftsweise 2016 (2): Ungleichheit – Schuld ist der Sozialstaat

04.11.2016

Täuschende Wirtschaftsweise 2016 (1): Mindestlohn – Mehr auf Arbeitgeberlinie als die Arbeitgeber selbst

03.11.2016

Die Wirtschaftsweisen tricksen und täuschen wieder: Sondergutachten zu Griechenland

28.07.2015

Die tricksenden und täuschenden Wirtschaftsweisen im „Wirtschaftsdienst“

13.04.2015

Achim Truger: Replik zur Stellungnahme des Sachverständigenrats

03.12.2014

Wirtschaftsweise weisen Kritik zurück

30.11.2014

Wie die Wirtschaftsweisen tricksen und täuschen (Teile 5-7)

08.12.2014

Wie die Wirtschaftsweisen tricksen und täuschen (Teile 1 bis 4)

12.11.2014

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