Warum die experimentelle Entwicklungsökonomik den Nobelpreis nicht verdient

14. 10. 2019 Das Auswahlkomitee der Schwedischen Akademie der Wissenschaften für den Ökonomie-Nobelpreis ist seinem Faible für neoliberale, Chicago-Style Ökonomik treu geblieben. Den Preis bekommen Esther Duflo, Abhijit Banerjee und Michael Kremer. Bei deren Forschung geht es darum, Entwicklungspolitik, die darauf abzielt, Volkswirtschaften zu entwickeln, zu ersetzen durch Maßnahmen, die die Produktivität von Individuen erhöhen. Außerhalb des Auswahlkomitees ist der Hype um die von den dreien populär gemachte experimentelle Entwicklungsökonomik längst der Kritik gewichen. Aus gegebenem Anlass hier noch einmal, was ich darüber vor über einem Jahr schrieb.

Wer heute als Entwicklungsökonom erfolgreich sein möchte, sollte tunlichst mit „randomisierten Kontrollversuchen“ (RCTs) arbeiten. Das sind experimentelle Wirkungsanalysen nach dem Vorbild der medizinischen Forschung. Dabei wird die eine Gruppe „behandelt“ und gleichzeitig eine vergleichbare „nicht behandelte“ Kontrollgruppe beobachtet. Zum Beispiel werden den Bauern in verschiedenen Dörfern unterschiedliche Varianten von Versicherungen gegen Ernteausfälle angeboten, in anderen Dörfern wird keine Versicherung angeboten. Ziel ist es in diesem Fall herauszufinden, wie man die Bauern dazu bringen kann, mehr Kunstdünger zu kaufen und auszubringen.

So soll ermittelt werden, „was funktioniert“ und was nicht. Denn es gab und gibt viel Enttäuschung darüber, dass sich in vielen Ländern trotz der Entwicklungshilfe wenig nachhaltige Armutsverminderung erkennen lässt. Diese Enttäuschung war der Nährboden für die sehr schnelle Verbreitung von RCTs in der Entwicklungsforschung und – politik.

Wie dominant diese Art der Forschung geworden ist, machte die ungekrönte Königin der Disziplin, Esther Duflo vom Massachusetts Institute of Technology, in einer Präsentation deutlich. Von 2000 bis 2015 stieg die Zahl der jährlich veröffentlichten Feldexperimente von etwa 20 auf 250. Die Mehrzahl der jungen Entwicklungsökonomen ist oder war an Feldexperimenten beteiligt.

Mit ihrem weltweit hochgelobten Buch „Poor-Economics: Radical Rethinking of the Way to Fight Global Poverty“ haben Duflo und Abhijit Banerjee im Jahr 2011 einen Hype ausgelöst. Ein Netzwerk aus Instituten hat sich RCTs verschrieben. Philanthropen aus dem Silicon Valley, die großen Wert auf erkennbaren Nutzen geförderter Projekte legen, geben Geld – allen voran die Stiftung des Microsoft-Gründers Bill Gates. Daneben ist die Weltbank ein großer intellektueller und finanzieller Förderer.

Duflo schätzte 2016 die Anzahl der mit RCTs begleiteten Weltbank-Projekte auf 400. Die Bank widmete ihren gesamten Weltentwicklungsbericht 2015 dieser Forschungsrichtung. Damit ist sie endgültig zum neuen „Goldstandard“ erhoben worden.

„Es kann bezweifelt werden, dass Probleme in Indien gelöst werden, indem man Ergebnisse eines Experiments in Afrika heranzieht.

In Europa haben RCTs nicht die gleiche Begeisterung ausgelöst wie in den USA. Die staatliche deutsche Entwicklungshilfeorganisation GIZ sah sich schon 2012 genötigt zu erklären, warum man auch künftig RCTs nicht zur Richtschnur für die eigene Arbeit machen werde. Die Methode eigne sich nur für einen schmalen Anwendungsbereich, und oft sei fraglich, ob sich die Ergebnisse verallgemeinern lassen. „Es kann bezweifelt werden, dass Probleme in Indien gelöst werden, indem man Ergebnisse eines Experiments in Afrika heranzieht“, monierten sie. Für breit wirkende Maßnahmen seien sie zudem kaum anwendbar. Auch ob die hohen Kosten der experimentellen Evaluierung wirklich immer durch den Erkenntnisgewinn gerechtfertigt seien, zogen die GIZ-Ökonomen in Zweifel.

Wissenschaftler warnen ebenfalls vor übertriebenem Vertrauen in die Aussagekraft von RCTs. Prominentester Kritiker ist Angus Deaton, Nobelpreisträger von 2016.

Den fortgesetzten Siegeszug der Experimentatoren in Wissenschaft und internationaler Entwicklungspolitik konnte das zunächst nicht aufhalten. Doch die Kritik wird lauter und breiter.

Florent Bedecarrats, Isabelle Guérin und François Roubaud von der staatlichen französischen Entwicklungsagentur Agence Française de Développement (AFD) werfen in einem jüngst vorgelegten Papier prominenten RCT-Ökonomen Hybris vor. Anwendbar sei die Technik nur auf spezifische lokale Projekte von oft geringer Bedeutung. Dennoch würden sie als Goldstandard gehandelt, an dem sich alle anderen Ansätze messen müssten.

„Einige Medienberühmtheiten unter den RCT-Befürwortern, mit Esther Duflo an der Spitze, wollen sogar eine komplette Liste guter und schlechter Entwicklungspolitiken erstellen“, lassen die Autoren ihre Empörung durchscheinen. Angus Deaton hat seine Gegenmeinung zusammen mit der Wissenschaftsphilosophin und Expertin für medizinische RCTs, Nancy Cartwright, in einem vor Kurzem nochmals in revidierter Fassung erschienenen NBER-Arbeitspapier zu Protokoll gegeben. „RCTs können beim Ausbau der wissenschaftlichen Erkenntnis eine Rolle spielen“, lautet ihr Resümee, „aber nur in Kombination mit anderen Methoden.“ Es gehe nicht darum, herauszufinden „was wirkt“, sondern darum, „warum manches wirkt“.

„Wir sind arrogant genug, uns einzubilden, wir wären besser darin, die Leben der Armen zu führen, als die Armen es sind.

Auch Jeffrey Hammer, der 25 Jahre für die Weltbank gearbeitet hat und nun an der Elite-Uni Princeton lehrt, kritisiert die neue Lieblingsmethode seines Ex-Arbeitgebers mit deutlichen Worten. Es gebe eine ungerechtfertigte Fokussierung auf „private Güter“, also solche, bei denen man eine Kontrollgruppe ausschließen kann. Dabei komme es bei der Entwicklungspolitik stärker auf öffentliche, von allen nutzbare Güter an, wie etwa eine gute Infrastruktur oder ein funktionierendes Rechtssystem.

„Wir waren einmal bescheiden und studierten das Verhalten der Menschen, um ihr Problem zu verstehen. Heute sind wir arrogant genug, uns einzubilden, wir wären besser darin, die Leben der Armen zu führen, als die Armen es sind“, kritisiert Hammer. Viele RCTs beschäftigten sich mit der Frage, wie man die Armen am besten motiviert, mehr zu sparen. „Aber haben wir wirklich geprüft oder gefragt, ob es gut für sie wäre, noch weniger für Ernährung oder Erziehung der Kinder, Gesundheit oder andere wichtige Dinge auszugeben?“

Christian Berndt, Geografieprofessor in Zürich, und sein Kollege Marc Boeckler von der Universität Frankfurt stimmen in der Zeitschrift „Geoforum“ in die Kritik ein. Unter dem Titel „Behave! Global South“ hinterfragen sie die Rechtfertigung der Annahme, dass vor allem individuell unvernünftiges Verhalten der Armen für deren Armut verantwortlich sei. Nur unter dieser Prämisse könne man annehmen, dass eine Korrektur von ermittelten Verzerrungen des individuellen Kalküls ein wirksames Mittel gegen die Armut ist.

Tatsächlich scheint diese Annahme unter RCT-Befürwortern vorzuherrschen. Im Bericht der Weltbank sind es nicht politische oder wirtschaftliche Bedingungen, die Armut verursachen, sondern: „Armut ist ganz einfach der Kontext des Denkens.“ Dean Karlan, ein Pionier der experimentellen Wirkungsforschung, beschreibt das in dem Buch „More Than Good Intentions: How aNew Economics is Helping to Solve Global Poverty“ so: „Die Verhaltensökonomik hat gezeigt, dass arme Leute Fehler machen, die sie ärmer, kränker und unglücklicher machen. Diese Fehler zu identifizieren und zu korrigieren ist eine Voraussetzung dafür, die globale Armut zu beseitigen.“

Hammer appelliert in Reaktion auf solche Aussagen: „Wir müssen aufpassen, dass wir uns um die wirklich wichtigen Probleme kümmern.“

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