Nachlese zu Hudson’s der Sektor: Warum Keynesianer ein Problem mit der Renten-Extraktionsthese zu haben scheinen

2. 02. 2017 | Ein Leser stellte mir eine sehr instruktive Frage, die ich für alle Leser beantworten möchte. Denn die Beantwortung zwingt mich, mich nah genug an die keynesianische Gedankenwelt und Sprache zu begeben, dass es möglich werden sollte, mir Missverständnisse auszureden. Es geht darum, ob es sich beim Überschuldungsproblem letztlich um ein Verteilungsproblem oder um ein Problem der effektiven Nachfrage handelt.

Die Frage bezieht sich auf meinen Beitrag: Flassbeck zerpflückt Hudson: Kritik des Verrisses und Gegenbesprechung von „Der Sektor“

„Wäre das Problem, das Hudson ausmacht — kurz: Schulden übersteigen Kapazitäten — immer noch ein Problem, wenn das Geld wieder in den realen Wirtschaftskreislauf zurückfließen würde? — Wenn z.B. alle Eigentümer / Anteilseigner der Banken den allergrößten Teil der Renten wieder in den Konsum stecken würden und die Löhne entsprechend steigen würden, mitsamt Nachfrage und Produktion?“

Die kurze Antwort ist Nein, es wäre keine Problem mehr. Die lange Antwort: Es handelt sich hier tatsächlich ebenfalls um ein Problem der effektiven Nachfrage, aber nicht im einfachen keynesianischen Sinne, so wie ich den verstehe. Ich will zur vollständigen Beantwortung die Folgefrage hinzunehmen:

„Anders formuliert: Steckt dahinter nicht ein Verteilungsproblem bzw. haben Sie nicht beide Recht, aber das eigentliche Problem ist die ungleiche Verteilung, da Rentiers relativ gesehen wenig konsumieren?“

Ja, es ist ein Verteilungsproblem. Ein Vermögensverteilungsproblem. Wenn das reichste Prozent, auf das Hudson so gerne plakativ abhebt, seine Rieseneinkommen für Konsum ausgeben würde, würde es kein (Netto-)Vermögen aufbauen. Entsprechend gäbe es auch keinen Schuldenaufbau bei den Übrigen. Die einfachen Arbeitnehmer und die Unternehmen müssten sich (per Saldo) nicht verschulden, sondern hätten genug Einkommen. (Wir nehmen hier zur starken Vereinfachung eine geschlossene Volkswirtschaft  ohne Auslandsbeziehungen an.)

Dass die Reichen ihr ganzes Geld ausgeben ist allerdings sehr unrealistisch. Realistischer Weise muss man annehmen, dass das Nachfrageproblem anders gelöst wird. Das kann entweder monetär geschehen, indem mehr Geld in Umlauf gebracht wird. Im bestehenden Geldsystem bedeutet das letztlich mehr Bankkredite und damit höhere Verschuldung der Privatwirtschaft, also der (holzschnittartig ausgedrückt) 99 Prozent und der produzierenden Unternehmen. Wenn sich aber, aufgrund der Rentenextraktion wie in meinem Beitrag und bei Hudson dargelegt, die Produktionskapazitäten nicht im Gleichschritt mit der Verschuldung erhöhen, gibt es irgendwann ein Überschuldungsproblem.

Oder das Nachfrageproblem wird fiskalisch gelöst, indem der Staat sich verschuldet und Nachfrage schafft. Am Problem, dass die Rentenextraktion die Zahlungsfähigkeit der Gesamtwirtschaft beeinträchtigt, ändert die Verlagerung auf den Staat aber nichts. Wenn er nur beschränkten Zugriff auf die wachsenden Vermögen des einen Prozents hat, entweder aus politischen Gründen, oder weil sie sich faktisch entziehen können, wird irgendwann die Schuldenbelastung zu hoch.

Das keynesianische Petitum, dass eine angemessene, im Sinne von nicht zu schwache, Lohnentwicklung für die Stabilität des Systems wichtig ist, bleibt erhalten. Allerdings ist es schwierig, eine gesamtwirtschaftlich angemessene Lohnentwicklung auszuhandeln, wenn die Zahlungsfähigkeit der Arbeitgeber aufgrund der Rentenextraktion durch den Finanz- und Immobiliensektor reduziert wird.

Die Rentenextraktion bringt ein von der keynesianischen Analyse nicht beachtetes Zusatzproblem, neben dem viel einfacher zu lösenden Koordinationsproblem (temporär) unzureichender Nachfrage aufgrund von Koordinationsproblemen in der Geldwirtschaft. Dieses Problem lässt sich nur gegen den entschiedenen Widerstand dieses extrem mächtigen „Sektors“ lösen. Das dürfte der Grund sein, warum Keynes, im Interesse der Akzeptabilität seiner „General Theory“ für die Londoner City, dieses Thema eher vernebelt als analysiert hat. Das war damals in Anbetracht der gesamtwirtschaftlichen Lage legitim. Warum die meisten Keynesianer auch heute noch so vehement diese Linie verfolgen, erschließt sich mir beim besten Willen nicht.

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