Der große Exkulplator: ISM-Kurator Lessenich verteidigt den neoliberalen Status Quo gegen linke Kritiker

Fast die ganze Titelseite ihres Feuilletons hat die Süddeutsche Zeitung am 3.1. dem sich radikal links gebenden Münchener Soziologen Stephan Lessenich zur Verfügung gestellt, um all jene in den Senkel zu stellen, die den Aufstieg der AfD mit neoliberaler Politik aus Brüssel oder wirtschaftlichen Sorgen der Abgehängten und Ignorierten in Verbindung bringen.

Lessenich, ein Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von attac und Kuratoriumssprecher des Instituts Solidarische Moderne, geht seine Aufgabe mit Verve an. Es ist allerdings nicht ganz leicht, aus seinen Schachtelsätzen herauszudestillieren, was seine konkreten Einwände gegen die kritisierte Position sind und was seine eigene Position ist. Mit vielen kraftvollen, negativ eingefärbten Bildern und Vergleichen insinuiert er mehr, als dass er argumentiert. Ich will es aber dennoch, bei aller Fehleranfälligkeit, versuchen, indem ich negativ eingefärbte Aussagen als seiner Ansicht nach falsch und die positiv eingefärbten als seiner Ansicht nach richtig klassifiziere.

Falsch, bzw. abzulehnen ist danach (laut Herrn Lessenich),

  • „die linke Deutungsindustrie“,
  • und dass diese versucht, „den Siegszug der AfD mit den Sorgen und Nöten unterprivilegierter Sozialmillieus in Verbindung zu bringen“,
  • zu versuchen, „die von entkoppelten Eliten enttäuschten und über neoliberale Politik empörten Protestwähler wieder zurückzugewinnen“.
  • Entscheidungen stärker auf nationaler Ebene ansiedeln zu wollen, weil Demokratie dort besser funktioniere als auf internationaler Ebene (SL nennt das „mehr Deutschland wagen“),
  • Parallelen zwischen AfD-Aufstieg und Trump-Wahlsieg zu ziehen,
  • das Ende der Geduld mit Brüssel für den AfD-Aufstieg (mit-)verantwortlich zu machen,
  • „linksliberalen Kulturalismus“, also die Fokussierung der Linken auf Gleichberechtigung und Minderheitenrechte statt Klassenkampf für die Verluste der Linken an die AfD (mit-)verantwortlich zu machen,
  • zu behaupten, dass angelsächsischer Neoliberalismus und globale Standortkonkurrenz für den Aufstieg der AfD (mit-)verantwortlich sind,
  • wenn die sozial und materiell Minder- und Mittelprivilegierten steigenden Wohlstand erwarten bzw. einfordern,
  • sozialer Kapitalismus (reaktionär),
  • breiten Wohlstand bewahren zu wollen (kleinkarierte und chauvinistische große Koalition der Wohlstandbewahrer)
  • Richtig ist dagegen (für ihn),
  • „dass die Rechtsnationalen bei praktisch allen gesellschaftlichen Gruppen punkten konnten, und ihre Kernwählerschaft unter Selbständigen und in Mittelschichtsmillieus haben“,
  • dass sich im Aufstieg der AfD das aggressive und gewalttätige Aufbegehren der deutschen Mittelschicht äußert,
  • dass der relative Wohlstand der Mittelschicht auf dem Ausschluss der Frauen beruht, und darauf, dass „Millionen migrantischer und postmigrantischer Arbeitskräfte“ in Dauerarmut schuften müssen,
  • dass mehr Wohlstand für die deutsche Mittelschicht nur durch mehr Ausbeutung „lebendiger Arbeit in entfernten Weltregionen“ und natürlicher Ressourcen möglich (und daher abzulehnen ist) ist,
  • dass wir einen Aufstand der Etablierten erleben, die um ihre ökonomischen, sozialen und kulturellen Vorrechte Angst haben, weil andere aufsteigen,
  • dass die deutsche Mittelschicht von steter Verlustangst und Verschwörungsfantasien geprägt ist,
  • dass ökonomischer und ökologiescher Fortschritt sich nicht versöhnen lassen,
  • dass Deutschland eine verleugnete Kolonialmacht ist,
  • deren Mittelschicht mit Abwehrnationalismus und Rassismus auf den eigenen Niedergang reagiert.

 Das kann man von einer sehr hohen, sehr grundsätzlich antikapitalistischen und antiimperialistischen Warte so sehen. Vor allem, wenn man sich nicht mit Fakten aufhält und als Universitätsprofessor wahrscheinlich über ein staatlich garantiertes Einkommen und Pension weit jenseits dessen verfügt, was die verachtete kleinbürgerlich-chauvinistische Mittelschicht gern für sich bewahren möchte. Wie diese antikapitalistische Warte allerdings mit den Zielen des Instituts Solidarische Moderne in Einklang zu bringen ist, das für eine „sozialökologische rot-rot-grüne Koalition“ kämpft, bleibt Lessenichs dialektisches Geheimnis und das des ISM für dessen Kuratorium er spricht.

Schaut man ein bisschen nach den Fakten und Indizien wird es allerdings schwierig mit den wenigen konkreten Aussagen jenseits von Lessenichs vulgärmarxistischer Kapitalismuskrisen-Ideologie.

So haben Nachwahlumfragen gezeigt, dass die Linke am meisten Richung AfD eingebüßt hat, und dass die AfD bei den Arbeitern relativ deutlich am stärksten war, sowie dass es vor allem die Menschen mit den niedrigeren Bildungsabschlüssen sind, die AfD gewählt haben. Je niedriger das Wohlstandsniveau eines Wahlkreises, desto mehr haben AfD gewählt. Früher schon hatten Umfragen ergeben, dass das durchschnittliche Einkommen der AfD-Anhänger fast so niedrig ist, wie das der Linken-Anhänger und damit deutlich niedriger als das der anderen Parteien. Dass die AfD ihre Kernwählerschaft „in Mittelschichtsmillieus“ habe, ist schlicht falsch. Die von Lessenich verächtlich gemachte Gegenposition ist richtig.

Auch die These von den Verlustängsten und Verschwörungsfantasien der Mittelschicht trägt nicht. Sie sei durch die Wohlstandsgewinne nach dem 2. Weltkrieg längere Zeit kompensiert worden. Aber die Zeiten hoher Wachstumsraten sind schon sehr lange zu Ende. Und von Mitte der 1990er bis ca. 2004 ging es für die meisten sogar abwärts. Warum ist damals nicht eine Partei wie die AfD groß geworden? Seit etwa 2012 läuft es für die meisten wirtschaftlich deutlich besser als Anfang 2000, trotzdem wird die AfD gerade jetzt immer stärker.

Nicht besser sieht es mit Lessenichs These aus, dass die Verlustängste der verabscheuungswürdigen Mittelschicht daher rühren, dass „sie die Ahnung (beschleicht), dass die anderen, die von männlich-deutschen Lebenswelten und den privilegierten Lebensverhältnissen des westlichen Wohlstandskapitalismus über Jahrzehnte hinweg Ausgeschlossenen, nun endlich aufbegehren – und sich eben nicht mehr nur mit abgeleiteten Sicherungen, minderen Rechten und vagen Aussichten auf eine eigene bessere Zukunft abspeisen lassen wollen.“ Ich bitte den Bandwurmsatz zu entschuldigen. Er ist ausnahmsweise nicht von mir. Mit Verlaub, was für ein verquaster, pseudointellektueller, pseudo-emanzipatorischer Haufen Mist. Was will Herr Lessenich uns damit sagen? Dass die Mittelschicht Angst vor den Frauen hat? Wohl kaum. Erstens sind es die Ehefrauen der Mittelstandsmichels. Zweitens müssten sich nicht die Älteren, sondern die Jüngeren um die guten Jobs sorgen. Denn die jungen Frauen haben die höheren und besseren Schulabschlüsse und junge Männer haben daher kaum noch Chancen auf Medizinstudienplätze (deshalb wird der NC jetzt wahrscheinlich aufgeweicht), und attraktive Stellen in der öffentlichen Verwaltung. Aber es sind die Wähler unter 30, die am wenigsten AfD gewählt haben. Bleibt also die These, dass die neokolonial geknechteten jetzt nach Deutschland drängen und der Mittelschicht ihre „Privilegien“ streitig machen. Aber das stimmt eben nicht. Die Mittelschicht hat – zumindest ökonomisch – nichts zu befürchten. Sie gewinnt. Sie kann billiger Essen gehen und sonstige Dienstleistungen in Anspruch nehmen. Ihre Jobs sind die letzten, die von zugewanderten Afrikanern oder Syrern oder Afghanen besetzt werden. Sie brauchen auch keine Sozialwohnungen. Grund zur Sorge haben viel mehr einfache Arbeiter und Arbeitslose, die auch tatsächlich deutlich überproportional AfD gewählt haben.

Dass Frauen deutlich weniger AfD gewählt haben als Männer, lässt sich mindestens teilweise dadurch erklären, dass nur etwa jede sechste Arbeiterin ist, während bei den Männern der Anteil mehr als doppelt so hoch ist. Über zwei Drittel der Frauen sind Angestellte, bei den Männern ist es weniger als die Hälfte.

Die Tatsache, dass von den USA über Frankreich bis Ungarn, Polen und Österreich und in vielen anderen Ländern die rechtsnationalen Parteien und Politiker erstarken und zum Teil schon an der Regierung sind, passt wohl irgendwie nicht zu Lessenichs antideutschem Weltbild vom latent bis offen rassistisch-chauvinistischen deutschen Mittelstandsmichel. Deshalb lehnt er, was die USA angeht, das Ziehen einer Parallele ohne Begründung ab, was die anderen Länder angeht, ignoriert er das für seine These unbequeme Phänomen.

Man kann sich des Eindrucks kaum erwehren, dass Lessenich seine hohe antikapitalistische Warte vor allem deshalb einnimmt, damit er von dort oben auf jeden schießen kann, der das rot-rot-grüne Projekt durch Beharren auf konkrete Verbesserungen für die Verlierer von Neoliberalismus und Globalisierung und durch übertriebene Distanz zur Nato und deren Friedensmissionen behindert. Wie das wiederum mit seinem eigenen antiimperialistischen Habitus zusammenpasst, muss Lessenich selber erklären. Für mich passt es nicht zusammen.

[3.1.2018]

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