Jean Tirole und der Ökonomie-Nobelpreis: Eine Geschichte in Widersprüchen

  „Die Ökonomik ist die einzige Wissenschaft, in der sich zwei Menschen einen Nobelpreis teilen können, weil ihre Theorien sich gegenseitig widerlegen“, sagte Preisträger Joseph Stiglitz 2004 in einem Interview. Das war  ein wichtiger Grund, warum Alfred Nobel die Wirtschaftswissenschaft nicht sonderlich schätzte und selbst keinen Preis dafür stiftete, sondern erst 1968 die Bank von Schweden. Jean Tirole, der Preisträger 2014 passt in die Tradition der sich gegenseitig widersprechenden Preisträger. Dass

Vertreter von  sich gegenseitig ausschließenden Theorien den Preis gemeinsam bekommen, wie 2013 Eugene Fama und Robert Shiller ist dabei allerdings auch bei den Ökonomen eher selten der Fall. Fast die Regel ist jedoch, dass der Nobelpreis an jemand geht, der die Theorien eines früheren oder späteren Nobelpreisträgers widerlegt. Und oft, wie auch bei Tirole, lässt sich das nicht auf wissenschaftlichen Fortschritt zurückführen.

 Jean Tirole hat den diesjährigen Preis dafür bekommen, dass er sich sehr genau mit der Struktur von Märkten auseinandersetzte, auf denen Marktmacht herrscht und die Anreize für die Akteure nicht unbedingt mit dem Wohl der Gesellschaft vereinbar sind. Er leitete daraus ab, welche Staatseingriffe unter welchen Umständen sinnvoll sind und wie genau diese auszugestalten sind, damit sie die erwünschten Effekte erzielen und möglichst wenige unerwünschte Nebeneffekte. Die Macken der Finanzmärkte und wie man sie am Besten behebt waren dabei ein wichtiger Teil seiner Arbeit. Schon in den 80er Jahren befasste sich Tirole mit der Tendenz der Finanzmärkte zur Blasenbildung. Das steht in deutlichem Gegensatz zur naiven Marktgläubigkeit einer ganzen Reihe von Nobelpreisträgern, darunter Eugene Fama, der den Preise erst vor einem Jahr bekam.

 Eugene Fama ist ein Hohepriester der Finanzmarktgläubigen. Er hat so nachdrücklich und radikal wie kaum ein anderer die These von der Effizienz der Finanzmärkte vertreten und war damit der wichtigste Gegenspieler von Robert Shiller, seinem Co-Preisträger von 2013. Er lieferte den theoretischen Unterbau für die Deregulierung der Finanzmärkte, die die große Finanzkrise erst möglich gemacht hat. Auch noch mitten in der Finanzkrise sagte Fama: „Ich weiß nicht, was eine schuldenfinanzierte Spekulationsblase sein soll, ich weiß noch nicht mal, was eine Blase überhaupt sein soll.“ Davon ist er bis heute nicht abgerückt.

 Robert Shiller dagegen wurde mit dem Buch „Irrationaler Überschwang“ berühmt, in dem er vor der Überbewertung von Aktien während der New-Economy-Euphorie warnte, kurz bevor die Börsenkurse einbrachen. Er warnte auch vor den gefährlichen Folgen einer von ihm diagnostizierten Preisblase am amerikanischen Immobilienmarkt. Die Subprime-Krise von 2007, die in eine weltweite Finanzkrise mündete, gab ihm ein zweites Mal Recht.

 Auch George Akerlof und George Stiglitz, hielten mit ihren prämierten Erkenntnissen die schwedische Akademie nicht von der Preisverleihung an Fama ab. Sie waren 2001 für Ihre Theorie der asymmetrischen Information ausgezeichnet worden. Darin zeigten sie, dass Märkte oft schlecht funktionieren, wenn Verkäufer, etwa die Verkäufer von Wertpapieren, viel mehr Informationen über ihre Produkte haben, als die Käufe, z.B. das „dumme deutsche Geld“, das die amerikanischen Schrottpapiere gekauft hat.

 Robert Merton und Myron Scholes erhielten den Preis 1997, „für eine neue Methode, Finanzderivate zu bewerten. Sie haben mit ihrer Methode, die auf Famas effizienten Finanzmärkten aufbaut und noch ein paar weitere ziemlich mutige Annahmen enthält, das explosionsartige Wachstum des Derviate-Markts maßgeblich begünstigt. Dabei hat sich schon ein Jahr nach ihrer Auszeichnung herausgestellt, wie gefährlich falsch ihre Annahmen in der realen Welt waren. 1998 geriet der riesige Fonds LTCM, in deren Leitung Merton und Scholes waren, wegen Derivatespekulationen auf Basis ihrer Formel in Schieflage. Er musste gerettet werden, weil er drohte, dass globale Finanzsystem in den Abgrund zu ziehen.

 Die intellektuelle Basis für Merton, Scholes und Fama hatten vor allem Wissenschaftler wie Gary Becker, Robert Lucas  und Milton Friedman gelegt, mit ihrer strikten Betonung der rationalen Entscheidungsfindung.

 Gary Becker wurde 1992 dafür ausgezeichnet, dass er die Annahme der streng rationalen, allein auf den eingenen Vorteil Bedachten  Individuen auf immer mehr Lebensbereiche ausdehnte, auch auf Ehe und Familie. Da geht es dann um relative Verhandlungspositionen und wie diese das eheliche und familiäre Arrangement bestimmen.

 Milton Friedman erhielt den Preis schon 1976, unter anderem für seine Konsumtheorie. Nach seiner „permanenten Einkommenshypothese“ reagieren Haushalte nur minimal auf aktuelle Einkommensschwankungen, weil sie ihren Lebenskonsum optimal auf ihr erwartetes Lebenseinkommen anpassen. Wenn nötig, nehmen sie Kredit auf, um Schwankungen auszugleichen. Das ging gegen die damals vorherrschende  keynesiansiche Konjunkturtheorie. Friedmans permanente Einkommenshypothese gilt heute als überholt, weil sie erstens den Daten diametral widerspricht und auch nicht mit den Erkenntnissen von Akerlof und Stiglitz vereinbar ist. Diese zeigten nämlich theoretisch, dass der typische Haushalt sein erwartetes Lebenseinkommen unmöglich über Kreditaufnahme gelichmäßig verteilen kann. Denn weil der Arbeitnehmer seine Erwerbschancen und Erwerbsneigung viel besser kennt, als die Bank, besteht die Bank auf Sicherheiten, die der Arbeitnehmer im Zweifel nicht hat.

 Robert Lucas, Preisträger von 1995, hatte entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der modernen makroökonomischen Theorie, also der Theorie, die gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge untersucht. Er kritisierte die bis zu den 70er Jahren vorherrschenden keyesiansichen Modelle, weil sie nicht auf rationalen Erwartungen der Individuen aufbauten. Er forderte und setzte durch, dass von gesamtwirtschaftlichen Modellen heute eine konsequente „Mikrofundierung“ verlangt wird. Das heißt, sie müssen von rational planenden Individuen ausgehen und dürfen die gesamte Wirtschaft nur als Summer dieser vielen Teile betrachten.

 Diese intellektuelle Basis, die davon ausgeht, dass bei der Erklärung sozialer Vorgänge und Gegebenheiten das rationale Individuum für die Wirtschaftswissenschaft im Zentrum stehen muss, wurde vorher und nachher von anderen Nobelpreisträgern fundamental in Frage gestellt, darunter von dem Psychologen Daniel Kahneman, vom meistzitierten Ökonomen Ken Arrow, dem mathematischen Ökonomen Gerard Debreu und dem Grandseigneur der „Wohlfahrtsökonomie“ John Hicks.

 Daniel Kahneman bekam 2002  den Preis dafür, dass er die Annahmen von Friedman  und insbesondere Lucas widerlegte, und damit auch die Basis für die Theorien von späteren Preisträgern wie Fama, Merton und Scholes. Er zeigte, dass die Menschen alles andere als rational handeln, sondern sich nach Faustregeln richten und insbesondere mögliche Verluste viel stärker gewichten als mögliche Gewinne. Dabei ist die Referenzsituation, die bestimmt, ob etwas als (weniger bedeutsamer) entgangener Gewinn oder als (schlimmer empfundener) Verlust betrachtet wird, oft recht willkürlich und leicht manipulierbar. Das verbietet, allen Menschen extreme Rationalität a là Lucas zu unterstellen.

 Gerard Debreu bekam den Nobelpreis 1983 für seine Arbeiten zu Existenz und Stabilität von gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichten, wie sie heutige makroökonomische Modelle generell annehmen. Er ist Mit-Namensgeber des Sonnenschein-Mantel-Debreu Theorems, auch Alles-ist-möglich-Theorem genannt, wonach es bei vielen unterschiedlichen Akteuren in aller Regel entweder kein oder viele Gleichgewichte gibt. Das heißt: es gibt nicht den einen in den Modellen angenommenen Zustand, in dem alle Preise „stimmen“; in dem auf allen Märkten Angebot und Nachfrage übereinstimmen. Das Theorem besagt, dass für ein eindeutiges Gelichgewicht Bedingungen erfüllt sein müssen, die unter anderem darauf hinauslaufen, dass alle Akteure gleich sind.

  Ken Arrow, der den Preis schon 1972 erhielt ging mit seinem „Unmöglichkeitstheorem“ in die gleiche Richtung. Es besagt, dass es unmöglich ist, aus individuellen Präferenzen eine gesamtgesellschaftliche Nutzenfunktion abzuleiten. Man kann also nicht sagen, der eine Zustand ist besser als der andere, weil unterschiedliche Individuen das unterschiedlich sehen. Das geht diametral gegen die später ausgezeichneten Preisträger wie Robert Lucas und Thomas Sargent mit ihrem Petitum, dass die gesamtwirtschaftliche Aussagen nur legitim seien, wenn sie als Zusammenfassung der Präferenzen und Entscheidungen rationaler Individuen konzipiert seien.

  John Hicks hat zwar zusammen mit Arrow den Nobelpreis dafür bekommen, dass er sich an Kriterien versuchte, mit denen man dennoch Werturteile über wirtschaftspolitische Maßnahmen abgeben kann. Das gilt aber inzwischen als gescheitert und Hicks selbst hat sich später von dem Werk für das er den Nobelpreis erhielt, radikal distanziert.

  Finn Kydland und Edward Prescott wurden dennoch 2004 für ihre bahnbrechenden Arbeiten zur Modellierung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts ausgezeichnet, das den Kern der heutigen Makroökonomik ausmacht – des Gleichgewichts, das in der realen Welt laut Debreu nicht existiert. Der Trick: die Modellierer flüchten sich in eine Fantasiewelt und nehmen an,  – oft nicht einmal ausdrücklich –dass die sogenannten Sonnenschein-Mantel-Debreu-Bedingungen erfüllt sind, dass also unter anderem alle Menschen identische Klone sind. Dann gibt es keine unfreiwillige Arbeitslosigkeit und ähnliche Verdrückungen und man kann eine gesamtgesellschaftliche Nutzenfunktion aufstellen. Denn diese ist mit der Nutzenfunktion des repräsentativen Individuums identisch.  

 Gunnar Myrdal und Friedrich August von Hayek, das unwahrscheinliche Paar, das sich 1974 den Nobelpreis teilen musste, machten schon damals deutlich, woran der Preis ihrer Meinung nach krankt – was die Ursache dafür ist, dass seit seiner Einführung immer wieder Behauptungen und deren Widerlegung mit der höchsten wissenschaftlichen Auszeichnung bedacht wurden. Der extrem marktliberal eingestellte Hayek fand es nicht gut, dass der Sozialist Myrdal mit ihm ausgezeichnet wurde, der in seinen Politikempfehlungen genau das Gegenteil von Hayek wollte. Myrdal ging es umgekehrt nicht anders. Hayek monierte in seiner Dankesrede ganz undiplomatisch, der Preis verleihe  einem Individuum eine Autorität, die in den Wirtschafswissenschaften niemand haben sollte, denn sie sei eine Sozialwissenschaft, in der es nur sehr bedingt ein richtig oder falsch gibt. Gunnar Myrdal äußerte sich später ebenso.

 Aber die Schwedische Akademie der Wissenschaften hat deswegen natürlich nicht den Preis für die Ökonomen wieder abgeschafft, der der Schwedischen Reichsbank als einer großzügigen Förderin der schwedischen Wissenschaften, so wichtig war. Dem Ansehen des Preises hat es keinen Abbruch getan. Und dem Status der Ökonomen hat der falsche Eindruck auch nicht geschadet, dass ihre herausragenden Vertreter herausragende Wahrheiten zu verkünden haben, so wie in den harten Wissenschaften Physik oder Chemie. Damit erfüllt der Preis auch sehr gut den Zweck, den die Notenbank im Sinne hatte: das Fach aufzuwerten, das ihr im Zielkonflikt mit einer nicht immer freundlich gesinnten Regierung zur Seite stand.

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