Warum Max Otte ein Rechter wurde und ich ein Linker: Eine Buchbesprechung

13. 03. 2021 | Mein Freund Max Otte hat mich gebeten, sein neues Buch „Auf der Suche nach dem verlorenen Deutschland“ zu rezensieren, und dabei die Frage zu beantworten: „Wie wurde der Mann zum Rechten?“ Ich habe ihn nach kurzer Lektüre gewarnt, er würde wohl zu schlucken haben. Er antwortete, er verlasse sich auf meine Fairness. Sein Mut ehrt ihn, ich hoffe, die Freundschaft hält auch das aus.

Die nur halbironische Leitfrage spielt darauf an, dass ich in letzter Zeit versucht habe, von Max Otte zu erfahren, warum er sich neuerdings so weit rechts positioniert, sich mit Leuten umgibt, die ich politisch äußerst unappetitlich finde, andere unappetitliche Leute wie Trump unkritisch hochlobt und in einer Tonlage getwittert hat, die mich dazu gebracht hat, ihm auf Twitter zu entfolgen. Seine Antworten kamen mir diffus und ausweichend vor.

Nun also über die Lektüre seiner autobiographischen Liebeserklärung an das ländliche, frühere Deutschland und an seine Sippe.

Dieses Buch wird jeder sehr unterschiedlich lesen, abhängig von seiner eigenen Geschichte. Vera Lengsfeld soll begeistert davon sein. Ich bekam die längste Zeit der Lektüre keinen rechten Bezug dazu, bis mein Unterbewusstsein ein paar Nächte Zeit hatte, die emotionale Sperre zum Trauma meiner eigenen Kindheit zu überwinden. Dann lag auch die Antwort auf Ottes Frage klar genug zu Tage.

Aber erst einmal ist klarzustellen, dass ich die verbreitete Umdeutung des Wortes „rechts“ in ein Schimpfwort für manipulativ und dumm halte und nicht mitmache. Was soll „links“ bedeuten, wenn alles was nicht links ist schon unanständig ist. Das ist ein totalitäres Politikverständnis. Rechts ist für mich der politische Gegenpart, den ich brauche, um mich links nennen zu können.

Vordergründig haben wir sehr viel gemeinsam und sind ähnlich aufgewachsen. Wir sind nur zwei Jahre auseinander, in bescheidenen Verhältnissen auf dem Land groß geworden, Leseratten, beruflich erfolgreich und halbwegs bekannt geworden, er beides deutlich mehr und viel früher als ich. Sein Vater hat nach dem zweiten Weltkrieg seine schlesische Heimat verloren, meine Mutter ihre sudetendeutsche. Politisch eint uns der Wunsch nach starken gesellschaftlichen Bindungen und Institutionen und einem starken, effektiven und fürsorglichen Staat und auch so manche Analyse wirtschaftlicher und politischer Fehlentwicklungen.

Autobiographische Liebeserklärung ans deutsche Landleben

Otte beschreibt in dem Buch kurz seine sehr erfolgreiche Karriere, kaum sein Familienleben als Erwachsener, aber sehr ausführlich die Orte an denen er aufwuchs, die Mitglieder seiner Sippe, die Landschaften und das soziale Miteinander auf dem Land, Liedgut, Literatur und Poesie. Gegeneinander kommt praktisch nicht vor. Es ist sehr positiv gehalten, das Buch, wie es sich für eine Liebeserklärung gehört. Bedauern darüber, dass das Beschriebene sich ändert oder verschwindet, ist der einzige Mollton in dem Buch.

Alles Problematische am Deutschsein, vor allem das eine, wird weitgehend ausgeblendet, allenfalls im Vorbeigehen kurz erwähnt, als etwas, worüber die Beteiligten nicht gern oder wenig sprachen.

Ich kenne diese Heimatverklärung von Teilen der sudetendeutsch-vertriebenen Familie meiner Mutter und kann sie auch bis zu einem gewissen Grade durchaus nachvollziehen und respektieren, wenn auch nicht teilen.

Die Frage, warum Otte ein Rechter geworden ist, und ich ein Linker, klärt sich relativ schnell, wenn man die vordergründige Ähnlichkeit unserer Lebensläufe beiseite schiebt, und die Unterschiede sucht. Dann kommt man auch zu dem Schluss – ich jedenfalls -, dass Ottes Erfolg und Unabhängigkeit im Denken wenig mit seinem Deutschsein, und seiner Heimat zu tun haben, und viel mehr mit Aufwachsen in den richtigen Verhältnissen und einer gehörigen Portion Glück. Die Unterschiede in Kultur, Lebensgefühl und Lebensumständen von Familie zu Familie, manchmal selbst innerhalb einer Familie, sind sehr viel größer als die Unterschiede zwischen der Kultur und Lebensweise „der Deutschen“ und „der Italiener“ oder „der Franzosen“. Das ist meine Gegenthese.

Otte wurde allgemein bekannt als Crashprophet durch sein hervorragend analysierendes Buch „Der Crash kommt“, in dem er den Zusammenbruch der Subprime-Kreditblase 2007/08 vorhersagte. Wohlhabend wurde er dadurch und als Unternehmer im Bereich Geldanlage.

Sein Vater war landwirtschaftlicher Berufsschullehrer, seine Mutter Hausfrau. Er hatte einen Bruder und viele erwachsene Verwandte im Haus oder in sozialer Nähe. Die Familie hatte zwar nicht viel Geld, aber er wurde unterstützt und gefördert, intellektuell, musisch, körperlich und seelisch. Er entwickelte in der Schule hochfliegende Ambitionen, arbeitete darauf hin, bekam ein Stipendium, das ihn zum Studium in die USA brachte, hatte in Köln einen Professor, der ihn entdeckte und förderte, sodass er, wie angestrebt, mit einem weiteren Stipendium an die Eliteuniversität Princeton in den USA konnte, um dort den Doktortitel zu erwerben.

Ganz jung schon beriet er für eine Unternehmensberatung für großes Geld die UN und spekulierte erfolglos mit Grundstücken. Er war einige Jahre Professor in Boston, bevor ihn sein Finanzunternehmertum und der Wunsch nach Deutschland zurückzukehren, dazu brachten, zu kündigen. Er kaufte sich ein Haus mit Garten in der Eifel, wo er das Landleben genießt.

Für jemand wie mich, der auf die Welt und die Heimat nicht aus seiner weltbürgerlichen Eliteperspektive blickt, sondern aus der (emotionalen) Underdog-Perspektive, wirken seine zu Papier gebrachten nostalgisch verklärten Erinnerungen in der politischen Einkleidung, die er ihnen gibt, ziemlich schräg.

Eine andere Perspektive auf das deutsche Landleben

Ich habe die andere, dumpfe Seite des traditionsreichen bäuerlichen Lebens auf und von der Scholle kennengelernt, viel ausgiebiger als mir lieb ist. Mein Vater war Kleinbauer aus familiärer Tradition, meine Mutter Bäuerin aus Tradition und Passion. Die Großeltern väterlicherseits, die mit uns lebten, waren unangenehme Menschen. Er trank viel und war aufbrausend, erst im Alter, mit zunehmender Demenz wurde er milde. Er belästigte meine Mutter. Die Großmutter lehnte mich ab, hasste mich und misshandelte mich als kleines Kind körperlich und seelisch. Auch sie machte meiner Mutter das Leben schwer.

Die Nachbarschaftshilfe funktionierte, als meine Mutter zusammenbrach und zwei mal länger in Kur musste, aber das reicht nicht, um das Ganze zu einer guten Erfahrung zu machen, zumal ich die strenge Nachbarin, die für uns kochte und sich um uns kümmerte, fürchtete.

Im Krankenhaus, zumindest auf dem Land, vertraten die Ärzte, wohl noch beeinflusst durch die Nazizeit, die robuste Philosophie, dass man weniger Geschrei hat, wenn man Elternbesuche bei Kleinkindern ganz unterbindet. Und so wurde ich mit einem Jahr, als ich ins Krankenhaus kam, emotional zum Waisen. Nach einem Monat ohne Kontakt zu den Eltern oder dem älteren Bruder ging es direkt zu den Großeltern mütterlicherseits, weil mein kleiner Bruder gerade geboren wurde. Als meine Mutter mich schließlich abholte und auf den Arm nehmen wollte, kannte ich sie nicht mehr, schrie und strampelte.

Nur der hartnäckigen Intervention eines Lehrers verdankten mein jüngerer Bruder und ich, dass wir gegen den Widerstand unseres Vaters aufs Gymnasium durften und nicht ungebildet gehalten wurden, damit einer von uns den Hof übernehmen würde. Er lies mich aber unterschwellig immer spüren, dass er nichts Großes von mir erwartete, ja dass es ihm nicht einmal recht war, wenn mir etwas gelang. Denn seine unerfüllten Ambitionen projizierte er allein auf meinen älteren Bruder.

Irgendwelche Förderung intellektueller, musischer oder sozialer Art, jenseits der liebevollen Fürsorge meiner geliebten Mutter, war nicht drin. Wir verbrachten einen großen Teil unserer außerschulischen Zeit mit der in der bäuerlichen Landwirtschaft üblichen Kinderarbeit auf dem Feld und im Stall und hassten es. Dass wir immer ein bisschen nach Stall rochen, und feine Manieren nur von Ferne kannten, billige Klamotten und abgelatschte Schuhe trugen, war dem sozialen Ansehen und Auftreten, dem Habitus des Erfolgs, wie Bordieu sagen würde, nicht förderlich.

So kam ich denn auch, trotz mit der Zeit immer besser werdender schulischer Leistungen und Noten niemals auch nur in die Nähe eines Stipendiums und der damit verbundenen Aufnahme in den Elitenachwuchs. Die Stiftungen, die die Stipendien vergeben, bemühen sich zwar redlich, bei ihrer Eliteförderung den klaren Bias zugunsten von Kindern aus groß- und bildungsbürgerlichem Elternhaus abzumildern, indem sie etwas bevorzugt auch Kinder aus weniger begüterten Verhältnissen in die Förderung aufnehmen. Aber der Habitus sollte schon stimmen.

So dauerte es bei mir eben ein oder zwei Jahrzehnte länger als bei Otte, bis ich meine berufliche Karriere als erfolgreich bezeichnen konnte. Ich bin’s zufrieden und fühle mich sehr privilegiert. Aber bis heute fühle ich mich erheblich wohler auf einem Plastikstuhl zwischen türkischstämmigen Familien vor der Döneria als beim Smalltalk mit Anzugträgern. Wenn ich einen Vortrag halte, oder als Berichterstatter zu den Kongressen der Hochmögenden gehe, fühle ich mich heute noch so, als würde ich mich verkleiden, als gehöre ich da nicht hin. Das geht nicht weg. Ganz anders als ein vordergründig in ganz ähnlichen Verhältnissen aufgewachsener Max Otte, der sich in Princeton ganz selbstverständlich unter die zu Höchstem Auserwählten mischte und sich mit ihnen anfreundete.

Rosinenpicken auf dem Lande

Ich gönne Max Otte und allen Anderen mit einer glücklichen Kindheit diese von Herzen. Und ich fände es auch prima, wenn er seine Erinnerungen, ob verklärt oder nicht, für sich und andere aufschreibt. Aber er bringt sie in eine Einkleidung rechter Identitätspolitik, das direkte, kein bisschen bessere Gegenstück und Vorbild zur heute dominanten linksliberalen Identitätspolitik, die mir gegen den Strich geht.

Das Buch soll „Lust machen auf unsere reiche Tradition, auf Ihre Mitmenschen, auf unsere Landschaften – kurzum: auf das, was deutsch ist. Darauf, dass Sie Deutschland mit anderen Augen betrachten.“

Nur sieht dieses Deutschland, vor allem das von Otte so verklärte ländliche Deutschland, aus meiner Perspektive ganz anders aus. Und vor allem, es scheint auch nicht zu Ottes Lebenslauf zu passen. Wenn dieses identitätspolitische Loblied auf das deutsche Dorf jemand geschrieben hätte, der in seiner Heimat eine Genossenschaft groß gemacht hätte, um dem Niedergang der Dorfgemeinschaft etwas entgegenzusetzen, oder ein Pfarrer, der dasselbe von der Kanzel und mit gesellschaftlichen Angeboten versucht, ich fände es klasse.

Aber jemand, der sich aus der Enge des Dorflebens geflüchtet hat und schon in jungen Jahren ganz nach oben wollte, an eine der besten US-Universitäten, das auch schafft, im Finanzbereich arbeitet, mit Grundstücken spekuliert, zum Spaß oder als Geldanlage landwirtschaftliche Grundstücke kauft? Ich weiß nicht. Jemand, der dann mit dem vielen Geld, das er mit Finanzjongliererei verdient hat, aufs Land zurückkehrt, um etwas für die Seele zu tun, aber „nicht mehr als eine Stunde Fahrtzeit von Köln“? Jemand, der dann irgendwo in diesem Radius ein Haus kauft, keines von den in dieser Gegend üblichen kleinen, sondern ein großes Pfarrhaus mit großem Garten, den er professionell betreuen lässt? Jemand, der einen Fahrer hat, der ihn von dort nach Bedarf abholt und nach Köln oder sonstwo in der Republik fährt, während er seinen Geschäften nachgeht?

Das hat aus meiner zynischen Sicht so viel mit dem Leben normaler Leute auf dem Land zu tun, wie Wasserskifahren mit dem Matrosenleben.

Es ist Rosinenpicken, ermöglicht durch viel Geld, das man anderswo verdient hat. Nichts gegen diesen Lebensentwurf. Ich finde es gut, wenn Leute zu leben verstehen und bewundere, dass Max Otte das so gelassen, erfolgreich und unbeeindruckt von Konventionen angeht. Aber für jemand, der auch die dunklen Seiten des deutschen Landlebens intensiv kennengelernt hat, wirkt es nicht echt, wenn er das mit der nostalgisch-romantisierenden Verklärung desselben verbindet und dabei, als stolzer US-amerikanischer Staatsbürger, ein deutsches Fähnchen schwenkt.

Falsche Signalgeber für den Niedergang

Otte macht drei Institutionen als Signalgeber des Niedergangs oder Verlusts der deutschen Heimat aus: Die Dorfkneipe, den Männerchor und die Bäckereifiliale in seinem Kölner Viertel. Mich überzeugt das nicht. Das Dorf in dem ich aufgewachsen bin, ist 800 Jahre alt. Ich habe gelesen, vor oder während der industriellen Revolution – ich weiß nicht mehr genau – gab es über 20 Kneipen für vielleicht 1000 Einwohner. Als ich noch dort wohnte, waren es noch vier oder fünf. Heute sind es noch zwei oder drei für vier- oder fünftausend, eine davon gehört zu einem Hotel, das der benachbarten Autobahnauffahrt zu verdanken ist. Das größte Sterben fand nicht in den letzten Jahrzehnten statt.

Auch ist es etwas ganz anderes, sich zur Erbauung in der Kneipe unter die Einheimischen zu mischen, wenn man zu Besuch ist, als Sonntag für Sonntag zu einem derben Stammtisch zu gehen, wo über die nicht Anwesenden gelästert und ultrakonservative Stammtischparolen von sich gegeben werden. Otte ist nicht von ungefähr weggegangen.

Die Bäckerei wird verdrängt von der Backfabrik, die allerdings oft durchaus noch zu dem zählt, was man in Deutschland Mittelstand nennt und Otte zu Recht so wichtig findet. Auch Möbel ließen sich schon zu Ottes Jugendzeit die wenigsten noch wie früher vom Schreiner machen. Auch vieles andere Handwerkliche und Kleinindustrielle aus früheren Zeiten ist verschwunden. Warum soll gerade die Bäckerei wirtschaftskulturell so wichtig sein, frage ich mich. Das Verschwinden hat viel früher angefangen, und nicht alles davon ist ein Problem.

Der Männerchor schließlich. Na ja. Ist halt heutzutage nicht mehr jedermanns Sache. Aber Freunde von mir sind sehr engagiert in einer gemischten Kantorei mit vielen anderen und erleben dort enge Gemeinschaft. Das gibt es schon noch. Aber auf dem Land halt eher selten, weil die Mobilität so groß geworden ist, dass die meisten lieber zu dem was sie am liebsten tun in die Stadt fahren, als sich – ziemlich unabhängig von ihren Fähigkeiten und Neigungen – dem sozialen Angebot anzuschließen, das es am Ort halt gibt, und sei es ein Männergesangsverein oder in meinem Fall Fußball und Kolping.

Ich genieße es heute in der Stadt, Volleyball und Backgammon spielen zu können, statt schlecht Fußball spielen zu müssen, mich mit Gleichgesinnten austauschen zu können, anstatt im katholischen Kolpingverein Gemeinschaft zu pflegen. Meine Kinder mit ihren sehr unterschiedlichen Bedürfnissen hätten es aus guten Gründen sicher gehasst, auf dem Land groß zu werden.

Schuld ist nicht der „Finanzkapitalismus“

Das soll nicht heißen, dass es nicht einen Niedergang und Fehlentwicklungen zu beklagen gebe. Aber die Ursachenanalyse am Ende finde ich überraschend dünn, wenn auch einigermaßen nahe bei meiner. Es ist die übermäßige Ausbreitung des Finanzkapitalismus, meint Otte und plädiert – eher diffus – für einen „faireren Kapitalismus“. Hier scheint seine Zugehörigkeit zur Elite besonders stark durch. Er beruft sich als Kronzeugen auf den Heuchler Ray Dalio, den megareichen Hedgefondsmanager und „Philanthrop“, der gesagt hat, der Kapitalismus müsse sich ändern. Er könnte sich auch auf das Weltwirtschaftsforum und dessen großkapitalistische Mitglieder berufen, die diese Platte schon seit Jahren zuverlässig abspielen, jedes Mal, wenn sie in Davos aus ihren Privatjets gestiegen sind. Und jedes Jahr wird die Ungleichheit, die sie publikumswirksam beklagen, noch größer, weil sie selbst nämlich noch reicher geworden sind als im Vorjahr.

Es gibt aber keinen Finanzkapitalismus. Die Finanzbranche ist unverzichtbarer Dienstleister jeder Art von Kapitalismus. Sie unterstützt die Kapitalbesitzer dabei, ihre Eigentumsansprüche so zu nutzen, dass möglichst viel Geld aus dem Produktionsprozess in ihre Taschen wandert, und dieses dann wieder in möglichst ertragreiche neue Eigentumsansprüche zu transferieren. Im Lauf der Zeit wird der Anteil des Vermögens, der sich bei den großen Kapitalbesitzern konzentriert, immer größer, und mithin das Betätigungsfeld der Finanzbranche immer umfangreicher. Zu deren Geschäft gehört auch, für das Kapital die Kapitalgesellschaften immer größer und rentabler zu machen, und dafür die Kleinen, die Personengesellschaften und nicht börsengehandelten Unternehmen zu verdrängen, kaputtzumachen oder aufzukaufen.

Sie ist dabei aber nur sehr gut bezahlte Dienstleisterin des Kapitals. Dass dieser Prozess heute schneller geht als früher hat weniger mit einem Übergang zu einer anderen Form des Kapitalismus zu tun, als mit dem Wegfall des sozialistischen Systemkonkurrenz, die es verlangte, den Kapitalismus zu zügeln, um ihn attraktiv genug zu halten.

Warum also er rechts, ich links?

Um zur Ausgangsfrage zurückzukommen, warum Max Otte ein Rechter geworden ist, und ich ein Linker. Meine Antwort nach Lektüre seines Buches ist, dass er die Welt der Minderbemittelten und Benachteiligten nur dank seines großen Herzens theoretisch erfasst und bedauert, aber nicht erfahren hat und spürt. Er blickt auf die Welt aus der philanthropischen (gönnerhaften) Perspektive dessen, der es mit viel Ehrgeiz und Einsatz verdientermaßen ganz nach oben geschafft zu haben glaubt und gern etwas dafür tun und abgeben will, dass es auch den besser gehen möge.

Ich blicke auf die Welt aus einer verinnerlichten Perspektive von unten, in der alles relativ ist, in der der materielle und soziale Aufstieg und die Zunahme des Reichtums der Reichen ihren direkten Gegenpart in zunehmender Benachteiligung und Perspektivlosigkeit der anderen haben. Ich darf das hoffentlich so offen sagen, weil ich selber gutsituiert bin und mir deshalb nicht Neid vorhalten lassen muss. Für mich tut nicht Philanthropie Not, sondern Kampf. Das sollt keinesfalls heißen, dass Max Otte, nicht mutig für seine Überzeugung streiten würde. Es bezieht sich nur auf die Botschaft dieses Buches, die mir nicht gefällt.

Ich kämpfe mit der Feder für die vielen anderen, deren Welt ich erfahren und verinnerlicht habe. Für sie würde ich gern den Kapitalismus ersetzen. Ich wünsche mir stattdessen eine Kombination aus wettbewerblicher Marktwirtschaft und einem Staat, der sich um die Daseinsvorsorge kümmert. Wie das aussehen würde, schreibe ich derzeit in einem Buch nieder, das Max Otte dann als Erster zerpflücken darf, wenn er mag.

Bei allen Unterschieden, die ich übermäßig betont habe, um sie herauszuarbeiten, sind die Schnittmengen groß. Wir wollen in vielem Ähnliches, vor allem mehr Miteinander und weniger Gegeneinander in der Gesellschaft. Aber das Geschäftsfeld von Max Otte und erst recht von Ray Dalio gäbe es in meiner idealen Welt nicht. Wenn wir so eine Welt schaffen könnten, wäre es mir fast egal, ob es noch Männerchöre und Kleinbäckereien und deutsche Volkslieder gäbe oder nicht. Es gäbe dann etwas anderes, mindestens genauso Gutes. Wenn es nicht gelingt, helfen auch deutsche Volkslieder und Männerchöre nicht, nicht einmal Dorfkneipen. Dann geht es abwärts, außer für die Elite, die immer ein schönes Plätzchen finden wird – wie Otte selbst ganz freimütig schreibt.

Max Otte: „Auf der Suche nach dem verlorenen Deutschland: Notizen aus einer anderen Zeit.“ Finanzbuchverlag. 21. März 2021. Gebunden. 25,- Euro.

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Klaus Karwat hat „Die Krise hält sich nicht an Regeln“ von Max Otte gelesen und klug rezensiert.

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